Ernst.FM

Startseite > Sendungen A-Z > Kultur in Hannover > Jürgen Kuri: „Die Technik werden wir nicht mehr los.“
Jürgen Kuri: „Die Technik werden wir nicht mehr los.“

Kultur in Hannover

Kultur ist ein großes Puzzle. Wir setzen die Teilchen zusammen und als Motiv entsteht: Hannover. UNESCO City of Music, niedersächsische Landeshauptstadt, Messezentrum… Die Stadt ist vollgestopft mit tollen Menschen und Veranstaltungen. Egal, ob die Band aus dem Proberaum nebenan oder der Direktor des Museums – Ernst.FM hat für jeden Hörer das passende Puzzleteil.

[009] Jürgen Kuri: „Die Technik werden wir nicht mehr los.“

v.l.n.r.: Jürgen Kuri, Markus Beckedahl, Anne Roth & Elke Schick (Foto: Pavillon Hannover)

Vom 21. bis zum 27. September findet im Pavillon Hannover das Spamfilter Festival statt. Bei Podiumsdiskussionen, Shows, Experimenten und Vorträgen nähern sich eine Woche lang verschiedenste Akteure der digitalen Gesellschaft dem Stand der Netzkultur. Nicolas hat am Montagabend kurz vor Beginn der Auftaktveranstaltung mit Jürgen Kuri, einem der Mitveranstalter, gesprochen. Kuri ist stellvertretender Chefredakteur beim c’t magazin und bei heise online.


Stichwort Netzkultur: Da denkt man an den NSA-Skandal, an Vorratsdatenspeicherung, an Cyber Mobbing. Großes Medienthema ist auch die Radikalisierung rechter Gruppen in sozialen Netzwerken – es brennt an allen Ecken und Enden der digitalen Welt. Und nun findet hier im Pavillon ein Festival zu Ehren der Netzkultur statt. Sind Sie vor diesem Hintergrund überhaupt in der Lage, die Chancen des Internets zu feiern?

Wir hoffen es! Aus genau diesem Grund heißt das Festival „Spamfilter“. Wir wollen diesen ganzen Mist rausfiltern. Wir stellen uns die Frage, wie man ihn bekämpfen kann und denken gleichzeitig über potenzielle Chancen nach. Digitale Selbstermächtigung ist dabei ein großes Stichwort: Es geht immer darum, wie man sich das Internet, die Vernetzung, die Digitalisierung selbst aneignen kann.

Im Gespräch mit dem NDR haben Sie festgestellt, dass die Gesellschaft häufig überfordert ist mit der rasanten technologischen Entwicklung. Müssen wir erst noch mal so richtig auf die Nase fallen, um zu merken, dass wir vielleicht einen Gang zurückschalten sollten? Oder sollten wir das vielleicht gar nicht?

Foto: Jürgen KuriDie Technik werden wir nicht mehr los. Wir können uns nicht hinter den heutigen Stand zurück flüchten. Wir finden uns aber gerade in einer Situation wieder, in der unsere Gesellschaft mit Technologien arbeitet, mit denen sehr viele gar nicht umzugehen gelernt haben. Sogar diejenigen, die damit aufgewachsen sind, sind häufig darüber verdutzt, was da permanent an Neuem auf sie zustürmt. Selbst die Digitalisierung und die Vernetzung sind ja Schnee von gestern. Mit dem sogenannten Internet der Dinge kommt bereits die nächste Welle auf uns zu. Das heißt, Gegenstände kommunizieren mit dem Internet, häufig sogar ohne unser Wissen. Was daraus für neue Probleme erwachsen, können wir heute noch gar nicht wissen. Nicht mal diejenigen, die tagtäglich damit arbeiten, sind vor dieser Überforderung gefeit. Deshalb müssen wir Lösungen im Umgang mit neuen Technologien finden: Wie kann es uns gelingen, die Technik so in den Griff zu kriegen, dass sie für uns funktioniert – und nicht, dass wir für die Technik funktionieren.

Die Frage stellt sich also gar nicht, ob wir einen Gang runterschalten sollten, sondern ob wir überhaupt in der Lage dazu sind?

Ich fürchte, wir werden das nicht schaffen. Es kann zwar sein, dass man in manchen Bereichen bremst, wenn man einzelne Entwicklungen als überflüssig empfindet und verwirft. Aber die grundsätzliche Wandlung hin zu einer immer digitaleren Gesellschaft werden wir nicht aufhalten können.

Und welche Lösungsansätze sind geeignet, die Autonomie beim technischen Fortschritt zurückzuerlangen? Brauchen wir Politik und gesetzliche Regeln oder müssen wir einen anderen kulturellen Umgang finden?

Das muss nicht nur über die Hebel Politik und Kultur geschehen. Man kann auch versuchen, die Technik selbst als Lösung einzusetzen für die Probleme, die sie aufwirft. Beim Datenschutz spricht man zum Beispiel von „privacy by design“, entsprechende Schutzmechanismen werden also direkt in die Technik eingebaut. Das ist etwa enorm wichtig, wenn in naher Zukunft vernetzte Autos miteinander kommunizieren werden. Es muss sichergestellt werden, dass die Technik so gebaut wird, dass der Nutzer nicht zum gläsernen Autofahrer gemacht wird. Das ist aber nur ein Teil der Lösung, die Technik allein wird nie all unsere Probleme mit Technik ausräumen können. Politische und gesellschaftliche Lösungen sind unumgänglich. Das Selbstverständnis einer Gesellschaft sollte also ständig neu verhandelt werden. Muss beispielsweise die moderne Privatsphäre die gleiche Bedeutung haben, die sie früher unter anderen Umständen hatte?

Hannover ist nicht Berlin. Sie küren die Stadt zwar in Ihrer Pressemitteilung für die kommende Woche zum „Mekka der Netzkultur“, aber eigentlich ist ja der netzkulturelle Diskurs doch eher in der Bundeshauptstadt beheimatet. Rechnen Sie trotzdem mit ausreichendem Interesse und gut gefüllten Hallen?

Spamfilter FestivalIch glaube schon, dass das Interesse an der Thematik auch hier groß ist. Hannover ist ja nun auch keine Kleinstadt. Davon abgesehen können wir womöglich sogar einen Vorteil daraus ziehen, dass Hannover nicht Berlin ist. Wenn Sie nämlich eine solche Veranstaltung in Berlin machen, ziehen Sie auch automatisch eine ganz bestimmte Szene an, die sich ohnehin tagtäglich damit auseinandersetzt. Uns geht es aber darum, eben nicht nur die Nerds anzusprechen, die jene Technologien selbst gebaut haben, mit denen wir nun umzugehen lernen. Jeder, der gelegentlich in seinem Alltag die Überforderung mit digitalen Entwicklungen spürt, kann zu uns kommen, darüber diskutieren und neue Dinge ausprobieren.

Das Spamfilter Festival ist also explizit keine Fachkonferenz?

Es ist explizit keine Fachkonferenz, jeder ist willkommen. Besonders spannend wird es, wenn sich Nerds und weniger involvierte Alltagsnutzer austauschen. Dann kann nämlich eine gegenseitige Hilfe entstehen.

Und wie waren die ersten Reaktionen jüngerer Menschen?

Mein Eindruck ist, dass Diskussionen über den Umgang mit Technik auch und gerade jüngere Menschen betreffen und ansprechen. Obwohl sie mit Social Networks aufgewachsen sind und sie als selbstverständlich wahrnehmen, sind sie doch immer wieder verdutzt, was da alles auf sie zukommt. Deshalb glaube ich, dass eine solches Festival nicht nur für Ältere spannend ist, die sich fühlen, wie ihre eigenen Eltern, die keinen Videorekorder programmieren können.

Nichtsdestotrotz kann man manchmal den Eindruck gewinnen, dass Netzpolitik und die Beschäftigung mit der Netzkultur keine allzu drängenden Themen der Digital Natives sind, sondern dass sie das Internet als selbstverständlich hinnehmen und selten hinterfragen. Ist die Netzpolitik nicht eher eine Angelegenheit älterer Menschen, die noch mit der Idealvorstellung eines freien Netzes aufgewachsen sind und nicht in Facebook hineingeboren wurden?

Das glaube ich schon deshalb nicht, weil gerade diejenigen, die in Facebook hineingeboren wurden, ständig mit Problemen konfrontiert sind. Cyber Mobbing ist zum Beispiel kein Thema, das primär Ältere betrifft. Die Art der Probleme unterscheidet sich vielleicht zwischen den Generationen, aber letztendlich sind sie alle auf dieselbe Technik zurückzuführen. Nur im Austausch miteinander lassen sich deshalb gemeinsame Lösungsansätze finden.

Das Programm für die kommende Woche ist prall gefüllt. Ich selbst werde Montagabend bei der Auftaktverstanstaltung mit Markus Beckedahl vorbeischauen. Am Donnerstag diskutiert unter anderem Frank Rieger, der Sprecher des Chaos Computer Club, über die Zukunft der Arbeit im digitalen Zeitalter. Und am Samstag referieren Vertreter des Zentrums für politische Schönheit über den aggressiven Humanismus. Welche Highlights hast du dir im Kalender rot angestrichen?

Ich habe mir den Dienstag angestrichen. Da beschäftigen wir uns tagsüber mit dem Gaming. Wir wollen aber nicht besprechen, welche neuen Spiele gerade angesagt sind, sondern fragen uns, wie Gaming und Inklusion zusammengehen. Wie können also behinderte Menschen mit Computerspielen umgehen? Und wie kann man Games auf die Straße bringen, sie mit der realen Welt verbinden? Das werden mit Sicherheit spannende Workshops. Am Dienstagabend stellen wir uns dann in einer Diskussionsrunde der Frage: Brauchen wir Netzfeminismus? Im Lichte von Gamergate und der Aufschrei-Debatte ist das ein spannendes Thema. Ein weiteres persönliches Highlight ist die Vorführung des Films „Citizenfour“ über und mit Edward Snowden. Eine Vertreterin der Produzentengruppe wird vor Ort sein und Fragen beantworten. Das SpamLab zu guter Letzt ist ein Projekt einer chinesischen Künstlerin, die in San Francisco lebt. Wir haben eine E-Mail-Adresse eingerichtet, die wir zum Beginn des Festivals öffentlich bekanntgeben. Den daraufhin eingehenden Spam werden wir ausdrucken und präsentieren, die besten Spams werden versteigert. Ich bin sehr gespannt, was da so zusammenkommt.

Das zeugt ja von einer großen Leidensfähigkeit! Dann bedanke ich mich für das Interview. Das komplette Festival-Programm ist auf der Website des Pavillon Hannover zu finden.

Diese Episode wurde veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz Namensnennung 3.0 Deutschland (CC BY 3.0 DE).


Kommentare (0)